Ein hessischer Betrieb, der Bio-Eier erzeugt, berichtet von einem Umsatzverlust von 50%, andere Betriebe mit Acker- oder Gemüsebau berichten von ähnlichen negativen Umsatzentwicklungen. Das Fachmagazin `Biowelt´ spricht von Umsatzrückgängen im Biofachhandel von ca. 14 %.
Diese Entwicklung gefährdet die Existenz unserer Biobetriebe! Genau der Betriebe, die wir benötigen, um die von uns als Gesellschaft gesteckten Nachhaltigkeitsziele zu erreichen!
Ziel dieses Aufrufs ist nicht, den wirtschaftlichen Rückgang einer weiteren Branche zu beklagen, denn mit Recht könnten viele Bereiche unseres Wirtschaftens vergleichbare Aussagen zu Umsatzrückgängen machen. Es geht vielmehr darum, diese negative wirtschaftliche Entwicklung des regionalen Ökolandbau in den größeren Zusammenhang seiner Bedeutung als nachhaltiges Wirtschaftssystem zu stellen. Denn nur der Ökolandbau bietet Antworten auf die großen globalen Herausforderungen wie der Klimakrise und dem Verlust der Artenvielfalt.
Tatsächlich besteht die Gefahr, dass die derzeitige Situation genau jene Strukturen zerstört, die wir für die Zukunft brauchen und über deren Vorteil wissenschaftlich Einigkeit herrscht: regionale, ökologische Wertschöpfungssysteme mit größtmöglicher Unabhängigkeit von externen Betriebsmitteln.
Wir sehen uns aktuell mit folgender Entwicklung konfrontiert: Die mit dem Krieg in der Ukraine einhergehende wirtschaftliche Entwicklung mit einer Verknappung von Waren, steigenden Kosten für Brenn- und Treibstoffe und Lebensmittelpreisen führt zu einer spürbaren Veränderung des Einkaufsverhaltens unserer Verbraucher*innen. Hochpreisige Bioprodukte werden im Regal zugunsten von Bio-Ware im Discounter stehen gelassen; regional erzeugte Ware verliert derzeit immer mehr an Marktanteil gegenüber Billig-Angeboten. Die im Mai nicht verkauften Spargel und Erdbeeren aus unseren Anbauregionen sind vermutlich nur die Vorboten für die Markteinbrüche, die im Sommer und Herbst auf uns zukommen dürften.
Die aktuelle Krise zeigt noch deutlicher als bereits erkannt, wo die Schwächen unseres bisherigen globalisierten Systems der Lebensmittelerzeugung liegen. Denn die Abhängigkeiten von Energie- und Futterimporten sind das Gegenteil einer resilienten Lebensmittelerzeugung. Eine Landwirtschaft, welche nur durch den Einsatz chemisch-synthetischer Dünge- und Spritzmittel aufrechterhalten werden kann, gewährleistet eine langfristige Nahrungsmittelsicherheit nicht. Die längst bekannten und wissenschaftlich belegten negativen ökologischen Auswirkungen sind jedoch der Hauptgrund, dieses System zu hinterfragen.
Zusammengefasst sind es drei Faktoren, welche die Notwendigkeit zur Transformation dieses Systems offenlegen. Erstens die hochgradig negativen Auswirkungen auf unsere Ökologie (Verschmutzung des Grundwasser, massiver Rückgang der Biodiversität, Abbau des Humusgehaltes der Böden mit einhergehender vernichtender Klimabilanz etc.), zweitens den viel zu hohen Energiebedarf für die Erzeugung dieser Betriebsmittel und den damit einhergehenden weiteren negativen Folgen für den Klimawandel und drittens die Abhängigkeit von autokratischen Staaten, welche uns, wie der aktuelle Konflikt mit Russland zeigt, massive Probleme bereitet.
Es besteht wissenschaftlich und in weiten Teilen der Gesellschaft Konsens, dass der Klimawandel und der Verlust der Biodiversität Krisen darstellen, deren Gefährlichkeit nicht hoch genug einzuschätzen sind, da sie unsere Ernährungssicherheit und den Lebensraum auf dieser Erde massiv bedrohen.
Nur der umfassende Ausbau des Ökolandbaus bietet hier eine Alternative! Denn er trägt maßgeblich dazu bei, dass Böden gesund erhalten werden, CO2 sequestriert, Biodiversität gefördert und ein unabhängiges, nachhaltiges und ein weitgehend resilientes Systeme zur Produktion von Lebensmitteln geschaffen wird.
Diese oben beschriebenen Tatsachen waren bis zum Beginn des Krieges in der Ukraine weitgehend Konsens. Sowohl die Wissenschaft, die Europäische Kommission und die Bundesregierung waren sich hinsichtlich der entsprechenden Zielsetzungen einig. Nun wäre zu erwarten gewesen, dass alle Kräfte mobilisiert und Hebel in Bewegung gesetzt würden, um diese strategischen Planungen in die Tat umzusetzen!
Leider ist das Gegenteil der Fall. Der Krieg in Europa mit seinen Folgen wurde von großen Teilen der Vertretung der bisherigen Wirtschaftsweise zum Anlass genommen –treffender noch wäre das Wort „missbraucht“ – um den umfassenden „Roll Back“ zu fordern. Der Hybris, Deutschland müsse die Welt ernähren, sollten sämtliche Übereinkünfte zur Extensivierung und Ökologisierung der Landwirtschaft geopfert werden. Stattdessen wäre es aber umso wichtiger, den geplanten ökologischen Umbauprozess jetzt erst recht zu beschleunigen, da die negativen Auswirkungen des aktuellen Systems doch so deutlich hervortreten.
Lässt sich eine Krise so gegen die andere ausspielen? Landwirtschaft, Naturschutz und Ernährung sowie Klimaschutz und Frieden gehören zusammen!
Dieser Aufruf hat zum Ziel auf die aktuelle fatale Entwicklung aufmerksam zu machen und Verbraucher*innen sowie die Verantwortlichen in der Politik und den Handelsunternehmen zu entschiedenem und konsequentem Handeln aufzufordern.
An wen richten wir uns?
Die Allianz wendet sich mit diesem Aufruf an die Öffentlichkeit, um darauf aufmerksam zu machen, wie dramatisch sich die aktuelle Krise auswirken kann. Denn derzeit zeichnet sich ab, dass wir genau die Betriebe und Wertschöpfungsketten verlieren könnten, die das umsetzen, was angesichts des Krieges in der Ukraine als zukunftsfähig erkannt wurde: eine ökologische und nachhaltige Lebensmittelerzeugung, die unabhängig von Energie- und Futtermittelimporten sein kann. Der Aufruf wendet sich daher an die
- Verantwortlichen in der Politik: Überlassen Sie die Entwicklung eines nachhaltigen ökologischen Lebensmittel-Erzeugungssystems nicht den Turbulenzen des Marktes! Sie gestalten die Rahmenbedingungen! Wir brauchen jetzt ein klares Bekenntnis dazu, dass die ‚fossile Landwirtschaft‘ ein Auslaufmodell ist. Dringend erforderlich ist jetzt ein rascher Umbau der Rahmenbedingungen zugunsten der Sicherung einer nachhaltigen Erzeugung und Verarbeitung von Lebensmitteln und damit des Ökolandbaus in unseren Anbauregionen. Mit hohen Fördersummen wurde in vielen erzeugenden und verarbeitenden Öko-Unternehmen in den letzten Jahren investiert. Prüfen Sie, inwieweit jede Verordnung, die Ihr Haus verlässt, den obigen Zielen dient oder sie hemmt. Weisen Sie nach, wie sich die wahren Kosten der Erzeugung, einschließlich der negativen Umwelt- und Klimaeffekte, in einem echten Produktpreis abbilden lassen. Die Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit bei Erzeugung und Konsum muss so abgesichert werden, dass die etablierte oder wachsende ökologische Erzeugung nicht plötzlich wieder grundsätzlich in Frage gestellt wird! Nur Sie als politisch Verantwortliche können sicherstellen, dass trotz bedrohlicher Turbulenzen auf den Märkten der Aufbau regionaler ökologischer Wertschöpfungsketten endlich konsequent und im Einklang mit den langfristig ausgerichteten gesellschaftlichen Strategien umgesetzt wird!
- Verantwortlichen im Lebensmitteleinzelhandel und Discount: Bitte werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht und unterstützen Sie insbesondere bäuerlich familiäre Höfe bewusst in dieser Situation. Gestalten Sie die Kommunikation ihren Kund*innen gegenüber im Sinne dieses Aufrufs. Legen Sie offen, wie hoch der Anteil biologisch erzeugter Ware aus der Region (also Hessen) tatsächlich ist, und gestalten Sie gemeinsam mit uns eine Steigerung dieses Anteils. Aus Sicht der Verbraucher*innen kann der Handel durch eine faire und transparente Preisgestaltung hier einen essentiellen Beitrag für Kaufentscheidungen leisten. Zudem kann der Handel einer zunehmenden Abhängigkeit von globalen Lieferketten und damit einem substantiellen Unternehmensrisiko entgegenwirken. Insofern: Überprüfen Sie Ihre Einkaufspolitik im Hinblick auf die Handelsspannen! Prüfen Sie, wo Sie auf Kosten der kurzfristigen Gewinnmaximierung langfristig strategisch in nachhaltig ausgerichtete Strukturen investieren sollten. Es erfordert JETZT ein konsequentes Handeln um für den zukünftigen Einkauf Ihres Unternehmens noch ausreichend Betriebe in der Region bzw. in Deutschland zu haben. Landwirtschaftliche Unternehmen, die jetzt ihre Tore schließen müssen, werden Ihnen zukünftig nicht mehr als Lieferanten zur Verfügung stehen.
- Verbraucher*innen: Bitte überdenken Sie ihr Einkaufsverhalten. Entscheiden Sie sich bewusst für Lebensmittel aus biologisch-regionaler Erzeugung! Mit jeder Kaufentscheidung tragen Sie zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation unserer Biobetriebe bei.
Sie unterstützen damit eine Erzeugung, die nachgewiesen deutlich positivere Auswirkungen auf unsere Umwelt und damit auf unsere zukünftigen Lebensmöglichkeiten hat als die meisten konventionellen Produktionsverfahren. Prüfen Sie, was für Ihre Zukunft und erst recht die Ihrer Kinder die richtige Kaufentscheidung ist.
Verantwortliche in Politik und Handel sowie Verbraucher*innen stehen JETZT in der Verantwortung, im Rahmen Ihres Einflussbereiches wirksam die ökologische Wirtschaftsweise zu unterstützen. Maßnahmen, die wir aufgrund der Kosten aktuell lieber vermeiden, werden zukünftig deutlich höhere Kosten nach sich ziehen.
Übersicht der Organisationen, die hinter dem Aufruf stehen
Hessen im Juni 2022