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Ein Blick auf potenzielle Selbstversorgungsgrade in Deutschland und Europa
Von Anna-Mara Schön, Pauline Otto (Grafiken), Marita Böhringer
Im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung ist es wichtig, regelmäßig die eigenen Ansätze und Themen kritisch zu hinterfragen. Das geringe Interesse hessischer Küchen an regionalen Produkten, die geringe Menge an für Großküchen geeigneten Erzeugnissen und die fehlende Infrastruktur zur küchenfertigen Vorbereitung regionaler Produkte haben während der Projektlaufzeit von „LogRegio – regionale Wertschöpfungsketten neu denken“ immer wieder Fragen aufgeworfen.
Während des Projekts stellten wir uns die Frage, ob die oben benannten Herausforderungen denn tatsächlich so gravierend sind. Wenn Hessen sich ohnehin nicht selbst versorgen kann1, wäre es dann nicht sinnvoller, Produkte von Orten zu beziehen, an denen sie besser verfügbar sind? Sollten Küchen regionale Produkte kaufen, auch wenn diese deutlich teurer sind als importierte Waren?
Hinzu kommt: Regionalität ist Auslegungssache. Der Verein Bio-Kartoffel Erzeuger (BKE) argumentiert beispielsweise klar dafür, ganz Deutschland als Region zu definieren: „Die Saison beginnt im Juni jeden Jahres mit den ersten Bio-Speisefrühkartoffeln aus der Pfalz, schließt mit den Knollen vom Niederrhein und Bayern an und geht im Juli in die bundesweite Haupternte über“. Ein regionales Siegel auf Bundeslandebene würde in Niedersachsen zu einer Überproduktion führen, während Hessen und Rheinland-Pfalz ihren Bedarf nicht decken könnten2,3.
Um Antworten auf unsere Fragen zu finden, analysierten wir die theoretischen Selbstversorgungsgrade aller Bundesländer und EU-Staaten, basierend auf Acker- und Grünlandflächen im Verhältnis zur Bevölkerung und zum Flächenbedarf je Ernährungsweise (das Grundgerüst dazu basiert auf der Studie von Schön & Böhringer, 2023, hinzugezogen wurden öffentlich zugängliche Statistiken11-14). Zusätzlich berechneten wir, unter der Annahme, dass die Ware in einem voll ausgelasteten 40-Tonnen LKW importiert wird, die CO2-Emissionen (in kg CO2e), die der Transport pro kg Ware verursacht.
Selbstversorgungsmöglichkeiten in Deutschland
Auf Basis des Verhältnisses zwischen Acker- bzw. Grünland und der Bevölkerungszahlen kamen wir zu folgenden ersten Einschätzungen:
Bayern könnte nach den heutigen Ernährungsmustern die meisten Menschen ernähren, nämlich knapp 17,4 Millionen. Es folgen Niedersachsen mit rund 15,6 Millionen und Mecklenburg-Vorpommern mit 9,1 Millionen Menschen. Diese Bundesländer produzieren Überschüsse, da sie weniger Einwohner haben, als sie theoretisch versorgen könnten. In Nordrhein-Westfalen hingegen leben über 18 Millionen Menschen, aber das Bundesland könnte nur 9,1 Millionen Menschen ernähren. Weitere Bundesländer mit Defiziten an Ackerland im Verhältnis zur Einwohnerzahl sind Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hessen, das Saarland und die drei Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin. Deutschland könnte insgesamt etwa 100 Millionen Menschen ernähren. Im Gegensatz dazu reicht das Grünland nicht einmal für Gesamtdeutschland aus; damit könnten nur 61 Millionen Menschen versorgt werden.
1 Anna-Mara Schön and Marita Böhringer, ‘Land Consumption for Current Diets Compared with That for the Planetary Health Diet-How Many People Can Our Land Feed?’, 2023 <https://doi.org/10.3390/su15118675>.
2 Bio Kartoffel Erzeuger e.V., ‘Gesund, Erschwinglich Und Gut Fürs Klima – Unsere Bio-Kartoffeln’ <https://bke-verein.de/bio-kartoffeln/> [accessed 19 June 2024].
3 Bio Kartoffel Erzeuger e.V., ‘Regionalität – Fluch Oder Segen?’ <https://bke-verein.de/regionalitaet/> [accessed 19 June 2024].
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Abbildung 1. Selbstversorgungsmöglichkeiten in Deutschland nach Bundesländern nach aktueller Ernährungsweise aufgeteilt in Ackerland (links) und Grünland (rechts), welches für die Produktion tierischer Nahrungsmittel gebraucht wird. Dunkelgrüne Balken: Einwohnerzahl des jeweiligen Bundeslandes. Hellgrüne Balken: Potenziell produzierbare Überschüsse. Rote Balken: Potenzielle Defizite, aufgrund nicht vorhandener Ackerflächen/Grünlandflächen.
Quellen: 1, 11, 12
Eine Ernährung nach der Planetary Health Diet (PHD) könnte mit Deutschlands Acker- und Grünlandflächen problemlos abgedeckt werden: Ackerland könnte knapp 241 Millionen Menschen und Grünland etwa 365 Millionen Menschen versorgen. Abgesehen vom Saarland hätte jedes Bundesland genügend Ackerfläche zur Selbstversorgung nach der PHD. Allerdings reicht die vorhandene Ackerfläche nicht aus, um den Bedarf an Hülsenfrüchten zu decken, wenn alle Menschen den Empfehlungen der PHD folgen würden. Hier wäre der Bedarf zu hoch, denn Körnerleguminosen können in einer 6- oder 7-jährigen Fruchtfolge nur einmal angebaut werden. Deutschland könnte sich in diesem Fall nur zu 89 % selbst versorgen. Bundesländer, die ihren Bedarf an Hülsenfrüchten unter der PHD nicht decken könnten, sind Bayern (98 %), NRW (38 %), Baden-Württemberg (46 %), Hessen (46 %), Rheinland-Pfalz (60 %) und das Saarland (22 %; Anmerkung: Bodenqualitäten sind in diese Zahlen nicht mit einbezogen worden).
Rheinland-Pfalz hat die meisten Dauerkulturen mit 73.200 Hektar, gefolgt von Baden-Württemberg (49.200 ha), Niedersachsen (19.400 ha), NRW (13.800 ha) und Bayern (13.700 ha).
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Abbildung 2. Selbstversorgungsmöglichkeiten in Deutschland nach Bundesländern, wenn sich alle Bürgerinnen und Bürger nach den Empfehlungen der Planetary Health Diet ernähren würden, aufgeteilt in Ackerland (links) und Grünland (rechts), welches für die Produktion tierischer Nahrungsmittel gebraucht wird. Dunkelgrüne Balken: Einwohnerzahl des jeweiligen Bundeslandes. Hellgrüne Balken: Potenziell produzierbare Überschüsse. Rote Balken: Potenzielle Defizite, aufgrund nicht vorhandener Ackerflächen/Grünlandflächen. Quellen: 1, 11, 12.
Selbstversorgungsmöglichkeiten in der EU
Bezogen auf die Flächen und Bevölkerungszahlen der EU-Länder, haben wir folgende Zahlen überschlagen1,13,14: Tatsächlich kann sich die EU in der Theorie auch nach heutiger Ernährungsweise selbst ernähren. Ackerfläche ist genügend vorhanden – nach aktuellen Ernährungsgewohnheiten könnten 837 Millionen statt der 448 Millionen Menschen auf Basis vorhandener Ackerflächen ernährt werden (Anmerkung: auch hier sind keine Bodenqualitäten berücksichtigt worden).
Besonders viele Dauerkulturen haben Spanien, Italien, Frankreich, Portugal und Griechenland mit Flächen zwischen 4,6 Millionen und knapp 839.000 Hektar. Typische Exportländer haben, bezogen auf aktuelle Ernährungsgewohnheiten und vorhandene Ackerflächen, die Möglichkeit sowohl ihre eigene Bevölkerung zu versorgen als auch zu exportieren. Frankreich (Einwohnerzahl: 64,8 Mio.) könnte rein rechnerisch auf Basis vorhandener Ackerflächen und Durchschnittsverbräuchen pro Kopf über 145 Millionen Menschen ernähren, Spanien (Einwohnerzahl: 47,5 Mio.) knapp 100 Millionen, Polen (Einwohnerzahl: 41 Mio.) 95 Millionen und Rumänien (Einwohnerzahl: 19,9 Mio.) 73 Millionen. Diese Länder haben auch genügend Grünland. Kleine Länder wie Luxemburg, Slowenien, Portugal, Belgien und die Niederlande können sich, bezogen auf ihre eigene Bevölkerung und das vorhandene Ackerland, nicht vollständig selbst ernähren. Die Niederlande können nicht einmal die Hälfte ihrer Bevölkerung ernähren.
Würden sich alle Europäerinnen und Europäer nach der Planetary Health Diet ernähren, könnten sich alle Länder bis auf Malta selbst versorgen, insgesamt sogar über 2 Milliarden Menschen, sofern angebaut werden würde, was auch gegessen wird. Auch Grünland ist für beide Ernährungsweisen ausreichend vorhanden (625 Mio. Menschen nach aktueller Ernährungsweise und 3,7 Milliarden Menschen nach PHD). Damit wäre viel Spielraum für Naturschutzmaßnahmen sowie extensive, nachhaltige und biodiversitätsfördernde Anbauweisen gegeben.
Zusammenfassung
Regionalität erfordert in der Ernährung eine komplexe und differenzierte Betrachtung. Die Analyse zeigt, dass eine vollständige Selbstversorgung in Deutschland, wie auch in Europa, theoretisch möglich wäre, insbesondere wenn die Ernährung nach nachhaltigen Leitlinien, wie der Planetary Health Diet, ausgerichtet wird. Jedoch verdeutlicht der Blick auf die Selbstversorgungsgrade und regionalen Unterschiede, dass die Entscheidung für regionale Produkte nicht allein ökologischen oder versorgungstechnischen Argumenten folgen sollte.
Vielmehr geht es darum, zwischen regionalen und überregionalen Bezugsquellen abzuwägen und dabei verschiedene Faktoren zu berücksichtigen, wie den Umweltkosten von Anbau und Transport, der Versorgungssicherheit, der Qualität und Verfügbarkeit der Produkte und nicht zuletzt auch wirtschaftliche Aspekte. Regionalität kann also dort eine sinnvolle Rolle spielen, wo sie Ressourcen schont, die Umwelt schützt und regionale Wertschöpfung stärkt. In anderen Fällen kann der Import ökologisch sinnvoller sein.
Zusammenfassend heißt das: Regionalität sollte gezielt gefördert werden, wo es möglich und ökologisch sinnvoll ist. Gleichzeitig muss auf effiziente und umweltfreundliche Importstrukturen gesetzt werden – und zwar dort, wo es notwendig ist.
Das war Blogbeitrag 1 von 3 zum Thema “Wie relevant ist Regionalität wirklich?”. In Teil 2 der Reihe beschäftigen wir uns mit dem Einfluss von Anbau und Transport auf die Emissionen unserer Lebensmittel und nehmen dabei insbesondere die Tomate in den Fokus.
Hier geht es zu Teil 2 der Beitragsreihe
Quellen der Artikel Wie relevant ist Regionalität wirklich? Teile 1-3
[1] Schön, A.-M.; Böhringer, M. Land Consumption for Current Diets Compared with That for the Planetary Health Diet—How Many People Can Our Land Feed? Sustainability 2023, 15, 8675. https://doi.org/10.3390/su15118675.
[2] Bio Kartoffel Erzeuger e.V., ‘Gesund, Erschwinglich Und Gut Fürs Klima – Unsere Bio-Kartoffeln’ <https://bke-verein.de/bio-kartoffeln/> [accessed 19 June 2024].
[3] Bio Kartoffel Erzeuger e.V., ‘Regionalität – Fluch Oder Segen?’ <https://bke-verein.de/regionalitaet/> [accessed 19 June 2024].
[4] CarbonCloud, ‘Lentils’ <https://apps.carboncloud.com/climatehub/product-reports/id/179797657331> [accessed 21 June 2024]
[5] Pernilla Tidåker and others, ‘Towards Sustainable Consumption of Legumes: How Origin, Processing and Transport Affect the Environmental Impact of Pulses’, Sustainable Production and Consumption, 27 (2021), 496–508 <https://doi.org/10.1016/J.SPC.2021.01.017>.
[7] Maria Vincenza Chiriacò, Simona Castaldi, and Riccardo Valentini, ‘Determining Organic versus Conventional Food Emissions to Foster the Transition to Sustainable Food Systems and Diets: Insights from a Systematic Review’, Journal of Cleaner Production, 380 (2022), 134937 <https://doi.org/10.1016/J.JCLEPRO.2022.134937>.
[8] European Food Safety Authority, ‘The 2016 European Union Report on Pesticide Residues in Food’, EFSA Journal, 16.7 (2018), e05348 <https://doi.org/10.2903/J.EFSA.2018.5348>; Ida Ekqvist, Elin Röös, and Pernilla Tidåker, Grain Legumes on the Swedish Market: Origin and Pesticide Use in the Production (Uppsala, 2019) <http://epsilon.slu.se>.
[9] Christopher L. Weber and H. Scott Matthews, ‘Food-Miles and the Relative Climate Impacts of Food Choices in the United States’, Environmental Science & Technology, 42.10 (2008), 3508–13 <https://doi.org/10.1021/ES702969F>.
[10] Poore, J., & Nemecek, T. (2018). Reducing food’s environmental impacts through producers and consumers. Science, 360(6392), 987–992. <https://doi.org/10.1126/SCIENCE.AAQ0216>.
[11] Statista Daten. Bevölkerung – Anzahl der Einwohner in den Bundesländern in Deutschland am 31. Dezember 2023 <https://de.statista.com/statistik/daten/studie/71085/umfrage/verteilung-der-einwohnerzahl-nach-bundeslaendern/> [accessed 21 June 2024].
[12] Landwirtschaftlich genutzte Fläche in Deutschland nach Bundesländern und Hauptnutzungsarten im Jahr 2023 <https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1075977/umfrage/landwirtschaftlich-genutzte-flaeche-in-deutschland-nach-bundeslaendern-und-nutzung/> [accessed 22 June 2024].
[13] Statista Daten. Wichtige Bevölkerungsindikatoren zu den EU-Staaten <https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Basistabelle/Bevoelkerung.html> [accessed 21 June 2024].
[14] EC Europe Agri-environmental indicator – cropping patterns <https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Agri-environmental_indicator_-_cropping_patterns&oldid=457657#In_focus:_arable_land_and_fodder_areas> [accessed 21 June 2024].
[15] Hannah Ritchie (2021) – “If the world adopted a plant-based diet, we would reduce global agricultural land use from 4 to 1 billion hectares” Published online at OurWorldInData.org. Retrieved from: ‘https://ourworldindata.org/land-use-diets’ [Online Resource]
[16] BMUV (2024), Kohlenstoffdioxid-Fußabdruck pro Kopf in Deutschland, <https://www.bmuv.de/media/kohlenstoffdioxid-fussabdruck-pro-kopf-in-deutschland>, published 02. May, 2024. [accessed 21 June 2024].